"Ich habe es nie bereut, diesen Schritt zu gehen", sagt Marie-Luise Kutt-Schüler. Bereits als junge Frau übernahm die Osthessin, die im Kurstädtchen Bad Salzschlirf zu Hause ist, gemeinsam mit ihrem Mann das erste Mal die Pflegschaft für Zwillingsjungen. Diese beiden haben sie später adoptiert. Dann bat das Jugendamt die junge Familie, die Pflegschaft für ein schwer behindertes Mädchen zu übernehmen. Jenny hatte angeblich eine Lebenserwartung von maximal vier Jahren. Als sie ihrem Herzleiden und den Begleitumständen ihrer Einschränkungen vor zwei Jahren schließlich erlag, war sie Mitte dreißig.
Aber zurück in die Vergangenheit: Als jüngstes Familienmitglied kam 1985 dann noch Andreas Berry, jetzt 37 Jahre alt, bei den Kutt-Schülers dazu. Insofern war es in all den Jahren immer ein buntes, lebendiges Familienleben mit einem offenen Haus für alle. Und als Pflegesohn Andreas erwachsen wurde, blieb es dementsprechend einfach auch dabei, dass er bei Familie Kutt-Schüler zu Hause war. Allein wohnen kam für Andreas nicht in Frage, und auch ein Leben in einem Wohnheim konnte er sich so richtig nicht vorstellen, er wollte doch lieber bei denjenigen sein, mit denen er von Kindesbeinen an vertraut war. Andreas arbeitet in Fulda in der Caritas-Werkstatt, aber seine Heimat ist Salzschlirf, wo er in der Freiwilligen Feuerwehr mittut, und seine Liebe gehört der Familie, nun ja, und Eintracht Frankfurt.
"Die Situation von Andreas ist insofern eine besondere, weil er praktisch sein ganzes bisheriges Leben hier mit Familienanschluss verbracht hat", erklärt Harald Schäfer, Leiter des Caritas-Dienstes "Begleitetes Wohnen" in Fulda. "So ist die Familie Kutt-Schüler ein gutes Beispiel dafür, worum es beim ‚Begleiteten Wohnen in Familien‘ vor allem geht: Menschen mit Behinderung, deren Einschränkungen ein selbstständiges Leben nicht zulassen, die sich jedoch beim Wohnen in einer Gruppe nicht wohl fühlen sondern ihre Sicherheit eher daraus ziehen, wenn sie in einer festen Struktur mit sehr vertrauten Bezugspersonen leben können, sind genau die Personen, auf welche dieses spezielle Betreuungskonzept zugeschnitten ist!"
Das Begleitkonzept für Andreas Berry beinhaltet gleich mehrere "Instanzen": Marie-Luise Kutt-Schüler - seine Mutter, wie Andreas sie selbst nennt, sorgt für ihn tatsächlich wie für einen Sohn. Andererseits hat Andreas zu Hause auch als vollwertiges Familienmitglied entsprechende Pflichten, etwa sein Zimmer in Ordnung zu halten und im Haushalt mitzuhelfen. "Jetzt zu Corona-Zeiten, wo die Werkstätten nicht zugänglich sind, hat der Andy hier bei mir seine Arbeitstherapie", erläutert lächelnd die Hausherrin. "Er hat in den vergangenen Tagen ordentlich im Garten mit angepackt, damit wir hier alles für den Sommer schön haben."
Gesetzlich vorgeschrieben erhält die Familie auch Beistand durch den eingesetzten rechtlichen Betreuer von Andreas Berry, der sich gegebenenfalls punktuell - in Absprache mit Andreas und seiner Betreuungsfamilie - um relevante Fragen, etwa der finanziellen Absicherung, der gesundheitlichen Versorgung, um Fragen des Wohnens und der persönlichen Freiheit kümmert.
Regelmäßige Unterstützung sowohl für die Gastmutter bzw. -familie als auch für den Gast - also Andreas Berry - liefert demgegenüber der Caritas-Dienst "Begleitetes Wohnen" in Gestalt seiner Mitarbeiterin Tanja Herr. Die Sozialpädagogin trifft sich in der Regel einmal monatlich zum Gespräch im Haus der Familie mit Marie-Luise Kutt-Schüler. Dabei geht es allgemein um die Situation - ob alles "rund läuft" - und es können aktuell anstehende Probleme besprochen werden. "Zuletzt - im Zuge einer bundesweiten Umstellung der Verfahren zur Finanzierung der Betreuungskosten - mussten wir einiges Behördliches erledigen", erläutert Tanja Herr. Mittlerweile sind die Dinge aber alle bestens geregelt, und beim jüngsten Gespräch zwischen Tanja Herr und Marie-Luise Kutt-Schüler ging es eher - wie könnte es anders sein - um die Corona-Krise und ihre Folgen für den Familienalltag. Corona wiederum ist für Andreas Berry allerdings nur ein Thema in Hinblick darauf, dass die Fußball-Bundesliga zeitweise ruhte, und dass die Werkstatt für ihn wochenlang verschlossen war. "Mit einigen Kolleginnen und Kollegen halte ich per WhatsApp zwar Verbindung", sagt er, "aber zu Hause besuchen dürfen wir uns zurzeit ja auch nicht. Es wäre schon schön, wenn wir wieder an die Arbeit könnten!"
Bei den Betreuungsgesprächen von Tanja Herr mit der Gastfamilie soll Andreas natürlich jederzeit die Möglichkeit haben mitzureden, wenn es um ihn und seine Betreuungssituation geht. "Meist machen wir es daher so", erläutert Sozialpädagogin Herr, "dass ich ihn an meinem Besuchstag zum Feierabend direkt in der Werkstatt abhole. Dann können Andreas und ich erst einmal miteinander sprechen. Später fahren wir dann gemeinsam zu ihm heim nach Bad Salzschlirf." "Ja, aber ist gut, wenn ich auch vorher den Termin kenne", betont Andreas Berry, "damit ich an dem Tag nicht mit dem Fahrrad unterwegs bin. Und damit ich nicht in eine Werkstattratssitzung muss. Sonst klappt das dann doch nicht mit dem Betreuungsgespräch!"